von Helmut Lederer
Sie friert. Kein Wunder.
Es ist Januar. Auch in Rom ist es im Januar manchmal kalt. Es regnet,
Schneeregen. Die Menschen hasten an ihr vorbei, jeder auf dem Weg von irgendwo
her nach irgendwo hin. Und alle scheinen es eilig zu haben. Das Licht der
Autoscheinwerfer vermischt sich auf dem nassen Asphalt mit den Spieglungen der
Schaufenster. Irgendwo aufwärmen wäre nicht schlecht, denkt sie. Natürlich
könnte sie in ihr Zimmer gehen, in dem kleinen Hotel in der finsteren Straße,
aber momentan weiß sie noch nicht einmal, ob sie wieder dorthin zurückfindet.
Nein, sie will nicht in ihr Hotelzimmer, sie sucht sich ein Bistro und sie
betritt gleich das an der nächsten Ecke. Fast an jeder Straßenkreuzung befindet
sich so ein Bistro, in dem die Menschen meist nur kurz und meist im Stehen
einen Espresso, Wein oder was sonst auch immer trinken, ein paar Worte reden
und dann weitergehen. Hier drinnen ist es nur wenig wärmer als draußen. Sie
bestellt sich an der Theke einen Cappuccino, setzt sich an einen kleinen Tisch
in der Ecke, behält den Mantel an und schaut auf die Menschen, die hier sitzen
oder stehen, laut reden, trinken, rauchen und auf die, die draußen vor den
großen Fenstern eilig vorbeigehen, die Kragen hochgeschlagen und die Blicke
gesenkt.
Sie
ist müde von den vielen Kilometern, die sie tagsüber durch die Stadt gelaufen
ist, von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit, vom Vatikan zum Forum Romanum,
von der Spanischen Treppe zur Fontana di Trevi, usw. usw. Sie hat alles in sich
aufgenommen, war fasziniert von der gewaltigen Vergangenheit, in die sie
eingetaucht ist, hat die Gegenwart vergessen und die Menschen um sich herum
nicht mehr wahrgenommen. Die Bauwerke mit ihrer großen Geschichte, deren Steine
sie angefasst hat und über die sie in ihren Büchern gelesen hat, haben von ihr
Besitz ergriffen, sie vorwärts getrieben und zum innehalten gezwungen. Und sie haben sie ihre eigene Vergangenheit
vergessen lassen, den Grund ihrer Reise.
Jetzt,
an diesem feuchten und kalten Abend, in dem zugigen Bistro, zwischen
Zigarettenrauch und laut redenden Männern, kommt das alles wieder zurück. Sie
hat ihre Stadt verlassen, ihr Geschäft, ihr zu Hause, ihren Mann und vielleicht
auch ihr bisheriges Leben, das doch eigentlich nie ihr Leben gewesen ist.
Sie hat all das verlassen, was ihr vertraut gewesen ist, was ihr Leben bestimmt
hat, eingetauscht gegen etwas, was ihr fremd ist und das aber, so glaubt sie
schon jetzt zu spüren, mehr mit ihr selbst zu tun hat, als alles bisherige. Es
ist fast eine Flucht gewesen, als sie ihre Stadt verlassen hat, früh am Morgen,
als der Alltag bereits drohend hinter den kahlen Weinbergen heraufzog.
Ab
und zu schaut einer der Männer von der Theke zu ihr herüber. Natürlich, eine
attraktive Frau, die etwas verloren an ihrem Tisch sitzt, fällt auf. Jetzt
endlich fällt sie jemanden auf, endlich schaut jemand nach ihr. Fast genießt
sie das, aber sie ist auch dankbar, dass niemand sie anspricht. Diese
Selbstverständlichkeit, mit der sie alleine hier sitzen darf, ist ihr fremd.
Über dieses Wort „selbstverständlich“ hat sie nie nachgedacht. Alles was sie
bisher getan hat, also für ihren Mann und das Geschäft getan hat, war
selbstverständlich. Aber was heißt denn dieses Wort: Selbstverständlich? Sich
selbst verstehen! Oder: Zu sich selbst stehen! Nichts davon hat sie in den
letzten Jahren getan. Fast möchte sie schreien. Sie hat sich selbstverständlich
selbst nicht mehr verstanden, nicht mehr seit Jahren. Lügen und Selbstbetrug,
nichts sonst. Und sie versteht sich auch jetzt noch nicht. Zu neu ist das alles
plötzlich, zu neu ist diese alte Stadt, zu der angeblich alle Wege führen, zu
neu ist diese Einsamkeit und zu neu ist diese Freiheit.
Für
einen Moment schließt sie die Augen. Ist dies der erste Tag im neuen Leben oder
der letzte im Alten? Sie kann das noch nicht trennen. Ich brauche Zeit, denkt
sie. Und plötzlich lächelt sie und ein paar Männer, die sie lächeln sehen,
schweigen ebenso plötzlich, als hätten sie begriffen, was da geschieht. Und ich
habe Zeit. Ich habe alle Zeit der Welt, in dieser ewigen Stadt und jede Minute,
die vergeht ist meine Zeit und nur ich bestimme, wie sie zu vergehen
hat.
Y
Er steckt sich eine
Zigarette an und winkt dem Kellner. Noch einen Espresso und einen Grappa. Die
Nacht wird lang und kalt. Wieder einmal ist er hier in dieser Stadt gestrandet.
Es scheint zu stimmen, dass alle Wege hier her führen. Immer wieder zieht er
hier durch, von Nord nach Süd, von Süd nach Nord, nie bleibt er lange hier und
doch kennt er bereits alles. Inzwischen sucht er nur noch die Nebenstraßen auf,
fern ab von den Touristenrouten, jene
Straßen, wo das wirkliche Herz dieser Stadt schlägt. Und immer ist er auf der
Suche aber auch gleichzeitig auf der Flucht. Dies genau zu trennen, ist ihm nie
gelungen. Was er sucht sind Geschichten, die er schreiben will. Geschichten
über die Menschen, die ihm begegnen. Und wovor er flieht, ist die Geschichte,
die immer dabei herauskommt: seine eigene. Da kommt er nicht raus. Seit er
Deutschland verlassen hat, streift er durch Italien, durch fremde und schöne
Landschaften, fremde und hässliche Hotelzimmer, immer begegnen ihm scheinbar
vertraute Menschen. Dabei werden sie erst zu vertrauten Menschen, wenn er sie
in seine Geschichten einbaut. Er erfindet ihre Geschichten, macht sie zu Teilen
seiner eigenen. Sie finden sich irgendwann, aber sie verlieren sich auch
wieder. Es gelingt ihm nie, eine Geschichte festzuhalten.
Ob sie ihn suchen? Er
lacht. Welch eine Illusion, das zu glauben. Sein Leben lang hat immer
irgendjemand etwas von ihm gewollt. Die Familie, die Frau, der Arbeitgeber, die
Freunde. Und er hat immer versucht, für alle da zu sein. Aber schon damals, war
es für ihn eine große Faszination, nicht mehr erreichbar zu sein. Unterwegs,
wenn niemand wusste, wo er war, begann er sich sicher zu fühlen. Er schaltete
sein Handy nicht mehr ein, schrieb keine Postkarten mehr und teilte auch sonst
niemanden mehr mit, wo er sich befand. Niemand konnte jetzt noch etwas von ihm
wollen. Jetzt endlich war er frei. Damit begann aber auch die Einsamkeit. Aber
wahrscheinlich war die der Preis dafür.
Natürlich sucht ihn
niemand mehr. Am Anfang vielleicht, als sie noch nicht verstanden hatten, warum
er verschwunden war, da hatten sie ihn vielleicht noch gesucht. Aber jetzt ist
er schon drei Jahre auf diese Weise unterwegs und seine Spur ist längst
verloren gegangen.
An den großen Glasscheiben
des Bistros läuft das Regenwasser herunter. Zwei Männer an der Theke schreien
laut miteinander. Er versteht nicht, was sie sagen. Obwohl er schon lange in
Italien unterwegs ist, hat er die Sprache noch nicht richtig gelernt. Dies
liegt auch daran, dass er das Interesse daran verloren hat, was die Leute um
ihn herum reden. Und er selbst spricht auch wenig, in seiner selbst gewählten
Isolation. Er schlägt den Kragen seiner
Jacke hoch und steckt sich eine neue Zigarette an. Der Grappa wärmt nur
geringfügig, der Espresso hält ihn wach.
Diese Frau dort, die in
der Ecke an dem kleinen Tisch sitzt und zu frieren scheint, die könnte einen
Platz in einer seiner Geschichten haben. Aber in welcher? Er schaut hinüber zu
ihr, sie wirkt so verloren, aber irgendwie auch in sich verschlossen und
dadurch in Sicherheit. Niemand kann ihr etwas anhaben, man schaut zu ihr hin,
lässt sie aber in Ruhe. Ja, irgendwie scheint jeder Respekt vor ihrem
Alleinsein zu haben. Sie gehört dazu. Der junge Geschäftsmann mit dunklem
Anzug, der einen Campari an der Theke trinkt und den Wirtschaftsteil der
Zeitung liest. Der alte Musiker, der beim vierten Grappa von seinem letzten
Auftritt in Milano erzählt, der freilich auch schon über zwanzig Jahre
zurückliegt. Der Taxifahrer, der seine Tour beendet hat und beim Rotwein über
die Touristen schimpft. Der alte Gigolo, der jeden Abend hier sitzt und von den
Frauen erzählt, der Fremde, der in der Ecke sitzt und schaut und schreibt und
die Frau, die hier fremd und alleine ist und ihren Cappuccino trinkt. Sie und
all die anderen gehören dazu, sie haben
alle ihre eigene Geschichte.
Aber in welche Geschichte
gehört diese Frau? Während er sie so beobachtet, wird ihm klar, dass er sie
nicht einfach irgendwo einbauen kann. Sie passt in keine seiner bisherigen
Geschichten. Nein, für diese Frau muss er sich eine eigene neue Geschichte
einfallen lassen.
Er ist schon zu lange
alleine unterwegs um auch nur im Traum daran zu denken, dass er vielleicht
selbst in ihre Geschichte passen könnte.
Y
Sie zündet sich eine
Zigarette an, obwohl sie bis gestern eigentlich nicht geraucht hat. Auf dem
Bahnhof Termini hat sie sich die Schachtel geholt. Der Cappuccino ist
inzwischen kalt geworden, sie trinkt den letzten Schluck. Der Mann, der auf der
anderen Seite des Bistros alleine an einem Tisch sitzt, schaut ständig zu ihr
herüber, das fällt ihr schon seit einiger Zeit auf. Er ist kein Italiener, das
hat sie sofort erkannt und er gehört auch nicht hier her. Genau so wenig wie
sie, das verbindet sie und deshalb empfindet sie seine Blicke auch nicht als
aufdringlich. Mit jedem neuen Besucher, der das Bistro betritt, kommt ein
kalter und feuchter Windhauch von der Straße durch die geöffnete Tür. Die
meisten begrüßen sich, scheinen sich zu kennen. Andere verabschieden sich,
schlagen die Kragen ihrer Jacken hoch und gehen hinaus, mischen sich unter die
vorbeieilenden Menschen auf der Suche nach dem Feierabend.
Durch dieses Kommen und
Gehen queren zwei Blicke das Bistro, die sich irgendwo dazwischen treffen und
nicht gleich wieder verlieren, was für ihn neu und ungewohnt ist und für sie
eine Herausforderung. Irgendwann erhebt er sich und sie rückt den Stuhl
zurecht, noch bevor erkennbar ist, dass er zu ihr an den Tisch kommt. Er geht
auch zunächst zur Theke, bestellt noch was, dann kommt er zu ihr. Sie schauen
sich kurz an, ein gegenseitiges abtasten, er will nichts von mir, sie will
nichts von mir, wir haben nichts zu verlieren. Er setzt sich auf den Stuhl, den
sie für ihn zurechtgerückt hat und schaut sie an. Sie schaut ihn an und dann
kommt der Barkeeper und bringt zwei Campari. Auf dem Tisch sind die Ränder
vieler Gläser zu erkennen, und das Wasser, das an den Scheiben hinunter läuft
reflektiert die vorbeifahrenden Autoscheinwerfer. Sie fühlt sich unendlich
müde. Er drückt seine Zigarette im Aschenbecher aus und spürt etwas wie endlich
angekommen zu sein, was er sich aber nicht erklären kann und was ihn deshalb
ziemlich verunsichert.
Wie beginnt man ein
Gespräch? Hat das erste Wort, das man sagt, eine besondere Bedeutung? Wie
„führt“ man ein Gespräch? Wie einen Hund an der Leine? Oder bewegt es sich von
selbst? Sie fragt sich, ob sie keine Erfahrung mehr hat im Reden. Können einem
die Worte verloren gehen? Unsere Sprachen haben allesamt zu viele Wörter, denkt
sie und ihr fällt wieder die lateinische Sprache ein, in die sie sich an den
langen einsamen Abenden immer geflüchtet hat, in der sie sich sicher und zu
hause gefühlt hat, nach dem Stress und Ärger des Alltages. „Sprechen sie
lateinisch“ fragt sie ihn und hat somit das Gespräch „eröffnet“. „Ich spreche
wenig,“ antwortet er, so als ob dies eine eigene Sprache wäre. „Was hat sie
hier her verschlagen?“ „Ihre Augen.“ „Ich meine nicht hier an diesen Tisch,
sondern nach Rom.“ „Das meine ich auch.“ Sie schaut ihn an und lächelt
nachdenklich. „Was ist mit meinen Augen?“ „Sie suchen.“ „Und sie sind auch ein
Suchender?“ „Ja.“ „Da haben wir tatsächlich was gemeinsam.“ Sie fragt nicht,
was er denn sucht und hofft, dass er sie auch nicht fragt. Suchende würden
durch diese Frage entlarvt. Jetzt lächelt er auch und er fragt sie nicht.
Der alte Musiker an der
Theke ruft gerade laut: „Pavarotti gehört in einen Knabenchor.“ Der Barkeeper
wischt mit einem Lappen über die Theke. Die Tür öffnet sich, nasser kalter Wind
kommt herein und eine Frau und ein Mann. „Musst du jetzt unbedingt hier rein?“
„Ich will einen Kaffee.“ „Wir haben keine Zeit.“ „Du hast keine Zeit, ich
schon.“ Sie bestellt an der Theke einen Kaffee und setzt sich auf einen
Barhocker neben den alten Gigolo, der sich sofort die Haare und den Schnurrbart
zurechtstreicht. Zähneknirschend kommt der Mann auch zur Theke und bestellt
sich einen Grappa. Der alte Musiker fragt den neuen Gast: „Sind sie auch der
Ansicht, dass Pavarotti in einen Knabenchor gehört?“ Der Mann sieht ihn
erstaunt an, nimmt dann seinen Grappa und trinkt ihn in einem Zug aus.
Das seltsame Paar an dem
kleinen Tisch in der Ecke wendet seine Aufmerksamkeit wieder von dem Geschehen
an der Theke ab. „Ich versuche eine Geschichte zu schreiben. Hätten sie was
dagegen, darin mitzuspielen?“ „Was soll ich denn in ihrer Geschichte?“ „Nein,
es ist nicht meine Geschichte, die ich schreiben will, es ist ihre Geschichte.“
Sie sieht ihn erstaunt an. „Meine Vergangenheit oder meine Zukunft?“ „Was wäre
ihnen denn lieber?“ „Wollen sie eine traurige oder eine lustige Geschichte
schreiben?“ „Alle lustigen Geschichten sind traurig und alle traurigen
Geschichten sind lustig.“ Sie wird nachdenklich und sagt leise: „Meine traurige
Geschichte ist traurig.“ „Wollen sie sie erzählen?“ Sie überlegt einen Moment.
„Warum sollte ich?“ „Weil sie was los werden wollen. Und weil es sich einem
Fremden gegenüber leichter offen reden lässt. Wir haben keine gegenseitigen
Verpflichtungen und Abhängigkeiten. Keine gemeinsame Geschichte.“ „Aber unsere
Vornamen dürfen wir doch wissen?“ fragt sie. „Natürlich, ich bin Thomas.“
„Marina,“ sagt sie und steckt sich eine neue Zigarette an. „Und jede
Ähnlichkeit mit der Wirklichkeit wäre rein Zufällig,“ fügt er lächelnd hinzu.
Sie lächelt auch. „Jede Ähnlichkeit mit der Wirklichkeit? Da ist was dran.
Manchmal glaube ich, das hier ist nicht die Wirklichkeit. Vielleicht bin ich
selbst gar nicht hier, sondern ich bin schon längst eine Figur aus einer ihrer
Geschichten.“ „Nein, nein, sie müssen nur anfangen sich daran zu gewöhnen. Dies
ist eine neue Wirklichkeit.“ „Da hätten sie schon beinahe den Titel, oder? Eine
neue Wirklichkeit.
Ich glaube, ich fange auch
schon an mich daran zu gewöhnen.“ „Macht sie ihnen Angst?“ „Ich weiß nicht, ich
glaube nicht das es Angst ist. Vielleicht eher ein schlechtes Gewissen.“
„Besser als gar keines.“ „Ohne wäre es aber leichter.“
Das Paar, das sich
lautstark an der Theke gestritten hat, verlässt die Bar. Die Männer murmeln was
verschwörerisches, der Barkeeper lacht und schenkt die Gläser wieder voll.
Einen Campari für den jungen Geschäftsmann, einen Grappa für den alten Musiker
und Rotwein für den Taxifahrer und den in die Jahre gekommenen Gigolo. Dann schaut
er zu dem Tisch in die Ecke. Thomas fragt Marina, was sie noch trinken möchte
und bestellt dann „Due Vini Rosso!“
Y
„Was ist ihre erste
Erinnerung an das neue Leben?“ fragt er sie. „Die Morgendämmerung über kahlen
Weinbergen,“ antwortet sie spontan und langsam erscheint ein Bild vor ihren
Augen. „Wir, mein Mann und ich, leben in einem kleinen Weindorf an der Nahe.
Wir haben eine Weinhandlung, Groß- und Einzelhandel.“ „Wie lange seid ihr
verheiratet?“ „Acht Jahre.“ Danach schweigt sie einen Moment, so als müsse sie
diese Zahl erst mal verkraften. „Seit wann haben sie den Gedanken wegzugehen?“
Sie denkt nach. „Seit sieben Jahren. Ich habe geglaubt in der Ehe all das zu
finden, was ich brauche und lange nicht gemerkt, dass ich dabei war, es zu
verlieren.“ „Haben sie darüber reden können?“ „Mit wem?“ „Mit ihm.“ „Natürlich
nicht. Er hat nicht verstanden, um was es mir ging. In seiner Hilflosigkeit hat
er sich immer wieder bemüht und ich habe mich immer verantwortlich gefühlt, für
das was er tat und später auch für das, was er nicht tat. Er ist wie ein großes
Kind, wenn ich es mir recht überlege. Ich habe ihm alle Kränkungen und
Missachtungen verziehen. Das war gar nicht so schwer. Irgendwann aber habe ich
gemerkt, dass ich mich selbst nicht mehr belügen konnte. Dass ich mir mein
ungelebtes Leben nicht mehr länger verzeihen konnte.“ „Und das war im
Morgengrauen?“ „Nein, das war in einer der vielen schlaflosen Nächte.“ „Haben
sie mit ihrem Mann darüber gesprochen, dass sie weggehen wollen?“ „Wir haben
nie über mich gesprochen, warum dann darüber? Es ging immer um das Geschäft
oder um ihn. Nie um mich.“ „Und sonst gab es niemand zum Reden?“ „Nein, ich
habe meinen früheren Bekanntenkreis aufgegeben als wir heirateten und keine
neuen Freunde mehr kennen gelernt.“ „Hat er das von ihnen verlangt?“ „Nein, das
habe ich selbst von mir verlangt. Ich habe wohl geglaubt, ich wäre es ihm
schuldig.“ „Welche Schuld haben sie da auf sich geladen?“
Marina schweigt und schaut
Thomas an. Sie trinkt einen Schluck Rotwein und fährt dann fort, ohne auf die
Frage einzugehen.
„Ich glaube, ich habe gar
nicht so richtig realisiert was ich tue, als ich in der Nacht meinen Koffer
packte. Mein Mann war müde, wie so oft, hat sich ins Bett zurückgezogen und ich
habe noch bis nach Mitternacht Abrechnungen gemacht. Irgendwann habe ich die
Ordner zugeklappt und meinen Koffer gepackt. Ich weiß nicht, wie lange ich
beschäftigt war, aber als ich das Haus verließ, begann es bereits zu dämmern.“
„Haben sie sich verabschiedet?“ Sie lacht. „Von meinen Büchern habe ich mich
verabschiedet. Ich bin in mein Zimmer gegangen und habe mich von meinem
Bücherregal verabschiedet.“ „Das waren ihre einzigen Freunde,“ stellt er fest
und sie nickt. „Dieses Zimmer war mein Zuhause. Nur dieses Zimmer, nichts
sonst. Das ist mir an diesem Morgen klar geworden. Ich bin zum Bahnhof
gelaufen, ohne zu wissen, wann der nächste Zug kommt und ohne zu wissen, wohin
ich eigentlich wollte. Es war kalt, kälter als hier. Haben sie eine Ahnung, wie
kalt kahle Weinberge sein können?“ Er nickt schweigend, will sie nicht
unterbrechen und trinkt einen Schluck von seinem Rotwein. „Ich bin in den
ersten Zug gestiegen, der kam. So ein Frühzug, der in die nächste größere Stadt
fuhr. Alle Leute waren wohl auf dem Weg zur Arbeit, waren schweigsam und
schauten mürrisch. Ich hatte mir nicht mal eine Fahrkarte geholt. Ich schaute
aus dem Fenster. Reif lag auf den Feldern und Nebel über dem Fluss. Als die
Sonne aufging, stand ich schon auf dem nächsten Bahnhof. Alle Menschen sind
eilig an mir vorbeigehastet und ich habe an einem Stand einen Kaffee
getrunken.“
„Nein, gefühlt habe ich
nichts. Ich glaube noch nicht mal die Kälte,“ antwortet sie auf eine Frage, die
er noch gar nicht gestellt hat. „Ich bin früher mal in Rom gewesen, das ist
lange her, aber die Erinnerung daran ist noch immer schön. Außerdem habe ich in
meinen Büchern viel über Rom gelesen. Und plötzlich wusste ich, ich will nach
Rom. Irgendetwas trieb mich an, zwei mal bin ich noch umgestiegen, erst in
Frankfurt, dann in München, wo ich lange ziellos in der Stadt herumgelaufen
bin. Mit einem Nachtzug bin ich von dort dann weitergefahren und als es
dämmerte und die Sonne aufging, waren da wieder kahle Weinberge. Ich glaube ich
musste erstmals auf dieser Reise lachen. Aber diesmal war es die Weinberge in
der Toskana oder Umbrien. Die Weinsorten von hier haben wir auch in unserem
Angebot.“ Jetzt muss er lachen. „Ganz die Geschäftsfrau.“ Sie lächelt auch,
etwas verloren. „Dieser Bahnhof Roma Termini lag für mich in einer anderen
Welt. Als ich hier ankam und aus dem Zug stieg, fühlte ich mich verloren.
Tausende Menschen, diese fremde aber wohlklingende Sprache aus den
Lautsprechern. Städtenamen wie Napoli, Pescara, Milano, die große Reklametafel
der Banco di Roma, alles war Nahrung für meine Ohren und Augen. Wie schon
gesagt, ich fühlte mich verloren und erschöpft, aber diesmal war ich glücklich
darüber. Es war eine ehrliche Verlorenheit, eine selbstgewählte.“ „Sie waren
endlich kein Opfer mehr, sondern Täter,“ sagt er „und das befreit.“ Sie schaut ihn
an, holt ihren Blick, der während des Erzählens im Bistro umhergeschweift war,
an diesen Tisch zurück. „Ja, ich glaube an diesem Morgen habe ich mich zum
ersten mal frei gefühlt. Das war erst gestern und doch scheint es mir schon so
lange her zu sein.“ Sie nimmt einen Schluck von ihrem Wein, während er sich
eine Zigarette anzündet.
Y
Der alte Musiker und der
alte Gigolo an der Theke werden immer lauter, sie scheinen in Streit geraten zu
sein. Der junge Geschäftsmann schaut etwas mürrisch von seiner Zeitung hoch,
der Barkeeper wischt mit einem Lappen über die Theke. Eine junge Frau im
Regenmantel bestellt einen Campari. Sie ist herein gekommen und Marina ist ihr
während ihrer Erzählung mit den Augen von der Tür zur Theke gefolgt. „Ich bin
dann vom Bahnhof etwa eine Stunde ziellos in den Nebenstraßen herumgelaufen,
habe in einem Bistro wie diesem Cappuccino getrunken und mir dann ein Zimmer in
einem einfachen, etwas finster wirkenden Hotel genommen. Der Typ an der
Rezeption hat mich etwas merkwürdig angesehen, aber das Zimmer war okay. Vom
Fenster hatte ich einen Blick auf eine belebte Straße. Ich weiß gar nicht, ob
ich da wieder hinfinde. Ich fühlte mich müde und erschöpft, der Lärm drang
gedämpft zu mir herauf.“ Sie macht eine kleine Pause und schaut wieder zu der
Frau an der Theke, ohne sie richtig wahrzunehmen. Auch den Mann an ihrem Tisch,
Thomas, scheint sie nicht mehr zu registrieren. Sie spricht wie zu sich selbst
und für sich selbst. „Ich habe mich ausgezogen und nackt vor den Spiegel
gestellt und angeschaut. Und ich fand mich schön. Wie lange war mir das nicht
mehr aufgefallen. Ich bin schön, sagte ich zu mir. Ich habe mich ins Bett
gelegt und bis zum Abend geschlafen. So tief und fest, dass ich nicht mehr
weiß, ob ich etwas geträumt habe. Als ich wach wurde war es dunkel. Eine
Leuchtreklame warf ein flackerndes Licht ins Zimmer. Ich wusste erst gar nicht,
wo ich war. Erst ganz langsam wurde mir bewusst, dass ich in Rom war.“ „Haben
sie an ihren Mann gedacht?“ Sie streicht sich eine nicht vorhandene Haarsträhne
aus dem Gesicht und steckt sich eine Zigarette an. „Was haben sie gefragt?“
„Sie haben schon verstanden, was ich gefragt habe. Haben sie noch immer ein
schlechtes Gewissen?“ „Ja, ich habe an ihn gedacht.“ „Und haben sie sich
gefragt, ob sie ihm fehlen?“ „Nein, ich habe mich gefragt, ob er mir fehlt.“
„Und?“ „Ich frage es mich noch immer. Wollen sie eigentlich nichts notieren für
ihre Geschichte?“ „Nein, meine Notizen entstehen im Kopf.“ „Was soll das für
eine Geschichte werden?“ „Das weiß ich immer erst hinterher.“ „Ich habe mich
angezogen und bin in ein kleines Restaurant gegangen, das direkt neben dem
Hotel lag. Nach dem Essen habe ich mir noch eine Flasche Wein mitgenommen und
bin wieder in mein Zimmer gegangen. Mein Zimmer! Wie oft bin ich in mein Zimmer
gegangen, wenn wir uns gestritten hatten.“ „Haben sie sich oft gestritten?“ Ich
weiß nicht. Er konnte ja noch nicht mal richtig streiten, sogar darum haben wir
uns betrogen. Und auch um die Versöhnung. Es ging schon vorher wieder weiter,
wir sind nie in die Extreme ausgewichen. Meistens habe ich dann bis tief in die
Nacht bei meinen Büchern gesessen und irgendwann bin ich dann zu ihm ins Bett.
Er hat es meistens gar nicht gemerkt und wenn ich morgens erwachte, war er oft
schon aufgestanden. Alles war so selbstverständlich. Alles war so verdammt
schrecklich selbstverständlich.“ Sie spricht plötzlich lauter, drückt die
Zigarette hastig aus und stößt dabei versehentlich das fast leere Weinglas um.
Der Taxifahrer und die
Frau von der Theke schauen zu ihr herüber, der Barkeeper kommt mit seinem
Lappen und wischt über den Tisch. Marina bestellt sich noch einen Wein, Thomas
auch. Das Regenwasser läuft noch immer an der Scheibe herunter, die Tropfen
glitzern im Licht der Autoscheinwerfer. „Und wie ging es weiter?“ „Nichts. Wir
sind wie immer unserer Arbeit nachgegangen, so als ob nichts geschehen wäre.“
„Ich meine gestern.“ „Ich habe mich in die Badewanne gelegt und die Flasche
Wein getrunken. Dann bin ich wieder ins Bett und habe bis heute Morgen durchgeschlafen.
Und heute bin ich den ganzen Tag in der Stadt herumgelaufen und habe mir alle
Sehenswürdigkeiten angesehen. Eben alles, was zum Touristenprogramm gehört. Vaticano, Forum Romanum,
Piazza di Spagna, Fontana di Trevi, Colosseo, Villa Borghese und was eben alles
so dazugehört. Ich habe mich regelrecht
mit Eindrücken zugeschüttet und alles in mir aufgenommen wie ein Verdurstender
in der Sahara einen Eimer Wasser.“
„Warum haben sie
geheiratet?“ Mit dieser Frage macht er einen Sprung zurück in eine andere Zeit.
„Das ist acht Jahre her.“ „Das ändert nichts an der Frage.“ „Soll ich jetzt was
von Liebe erzählen?“ fragt sie. „Ich weiß nicht.“ „Ich auch nicht.“ Der
Barkeeper bringt den Wein und schaut zwischen beiden hin und her, als er die
Gläser auf dem Tisch abstellt. Sie schaut in die Pfützen auf dem Fußboden, in
denen sich die Deckenbeleuchtung spiegelt. „Warum heiratet man? Irgendwo habe
ich mal gelesen, man sucht die verlorengegangene Seite von sich selbst, um sie
dann zu bekämpfen. Oder man bekommt plötzlich Angst vor dem alleine sein.
Vielleicht ist es das Alter oder die Müdigkeit, die einen die Zweisamkeit
suchen lässt. Was immer es sein mag, es ist eine Illusion. Wir machen uns vor,
dass wir das Glück gefunden haben, solange, bis wir es selbst glauben. Wie soll
es möglich sein, das Glück in einer anderen Person zu finden, wenn nicht in
sich selbst?“ Danach macht sie eine kleine Pause. „Ja, vielleicht habe ich
meinen Mann einmal geliebt und wahrscheinlich hat er mich auch einmal geliebt
und liebt mich immer noch. Soweit er überhaupt dazu in der Lage ist und soweit
ich überhaupt weiß, was Liebe ist. Das, was ich bisher dafür gehalten habe, ist
es jedenfalls nicht gewesen.“ „Und wie war das vor ihrer Ehe? Haben sie da
geliebt?“ „Wen?“ „Ich weiß nicht.“ „Ich auch nicht.“ Sie hat schnell
geantwortet und denkt jetzt nach. Wann hat sie das letzte mal jemanden geliebt
und wann hat jemand sie geliebt? „Ich glaube, ich kann mit dem Wort Liebe
nichts mehr anfangen. Es wird immer überlagert von etwas anderem. Faszination,
Sehnsucht, Lust... Erich Fried hat mal geschrieben: Die Stille ist das, was
übrig bleibt von den Schreien.“
Y
Sie schaut wieder zur
Theke. Ein paar neue Gäste sind inzwischen hereingekommen. „Was glauben sie,
sind die verliebt?“ fragt sie Thomas. Er nimmt einen Schluck Wein und schaut
über den Rand des Glases zur Theke. „Bei einigen ist es zumindest lange her.“
„Die junge Frau ist unglücklich. Sie ist verliebt, aber einsam.“ „Weil ihr
Freund sie verlassen hat?“ fragt er und sie schüttelt den Kopf. „Nein, ihre
Freundin.“ Thomas schaut von Marina zu der Frau an der Theke. Sie wirkt
tatsächlich etwas verloren, zwischen den älteren Männern dort. Der Taxifahrer
hat zu Hause eine Frau und vier erwachsene Kinder, wovon der älteste im
Gefängnis sitzt. Die Tochter hat inzwischen selbst zwei Kinder und lebt in
einer Hochhaussiedlung am Rande der Stadt. Seine Frau sitzt zu Hause und
trinkt. Vielleicht ist er auch einmal glücklich gewesen. Der Musiker war
zuletzt vor zwanzig Jahren glücklich. Damals ist er noch in einem Orchester
aufgetreten, stand irgendwo in der dritten Reihe mit einem Cello und gehörte
wenigstens dazu. Ab und zu hat er mit seiner Hammondorgel auf Weihnachtsfeiern
von irgendwelchen Firmen gespielt, das war schon der Anfang vom Ende. Der alte
Gigolo sieht noch immer gut aus, für
sein Alter. Früher hat er viele Frauen gehabt, jung und attraktiv, er hat ein
bewegtes Leben geführt. An die Frauen aus dem Seniorenheim konnte er sich nicht
gewöhnen, deshalb ist er jetzt alleine. Familie hat er nie gehabt. Nein, auch
er hat ganz sicher nicht gewusst, was Liebe ist. Jetzt trinkt er hier jeden
Abend an der Theke und liebt nur noch sich selbst. Der junge Mann im dunklen
Anzug, der sich hinter der Zeitung versteckt, hat die Enttäuschungen noch vor
sich, die die anderen bereits hinter sich haben. Er glaubt noch an den Erfolg,
doch er verwechselt lieben mit besitzen. Deshalb hat ihn seine Frau auch mit
dem jungen Barpianisten verlassen, einem zweifelhaften Künstler ohne Geld und
Erfolg. Aus Liebe? Wer weiß. Er jedenfalls nicht, er hat es nicht verstanden,
warum sie gegangen ist. Die beiden Männer neben der Tür sind Fabrikarbeiter,
müde vom Tag trinken sie noch was, bevor sie heimgehen zu ihren Familien. Sie
machen sich darüber keine Gedanken. Hoffentlich ihre Frauen auch nicht, dann
kann es gut gehen. Was ist das nur für eine Welt? Sie sind alle Glücksucher und
sie sind alle Verlierer. Nein, zu diesem Thema kann ihr hier niemand
weiterhelfen.
Sie wendet sich wieder
ihrem Gegenüber zu. „Was machen wir hier eigentlich?“ fragt sie ihn. „Wie
meinen sie das?“ „Ich erzähle ihnen aus meinem Leben und sie sagen, sie wollen
eine Geschichte darüber schreiben.“ „Ja, vielleicht. Aber darum geht es doch
gar nicht. Für sie ist es wichtig zu reden und für mich ist es wichtig
zuzuhören. Mal sehen, was dabei herauskommt.“ „Wer sind sie?“ „Ich bin Thomas,
ein reisender Schriftsteller, mehr nicht. Und sie?“ „Ich bin Marina, eine... –
mehr nicht.“ Er lacht, trinkt Wein, steckt sich eine Zigarette an und zieht den
Kragen seiner Jacke etwas zusammen. Es ist kalt in diesem Bistro, auch sie hat
ihren Mantel noch an, den Kragen hochgeschlagen. Der Satz: Lass uns wo anders
hingehen, liegt in der Luft, wäre aber zu banal. „Wo waren wir stehen
geblieben?“ fragt er statt dessen. Sie denkt nach. „Bei der Liebe. Oder dem,
was wir dafür halten. Ich habe einmal für zwei Jahre in einem Haus gelebt und
eines Tages im Treppenhaus einen jungen Mann getroffen, der gerade am ausziehen
war. Er hatte auch über ein Jahr hier gewohnt, aber wir waren uns nie begegnet,
zumindest nicht bewusst. Es war sein letzter Tag in diesem Haus und wir haben
die Nacht zusammen verbracht. Ich glaube, ihn habe ich geliebt, zumindest für
diese Nacht. Da gab es nichts mehr zu beanspruchen und auch nichts zu
verlieren, das machte es leichter.“ Er nickt. „Und seinen Namen haben sie
längst vergessen?“ Sie nickt. Ich hatte einmal einen jungen Freund, er war viel
jünger als ich, ihn habe ich wirklich geliebt. Aber er konnte damit nichts
anfangen. Er hat meine Liebe wohl als Gefängnis erlebt. Ich habe ihn so sehr
geliebt, dass ich ihn verlassen habe. Liebe hatte für mich noch nie etwas mit
Glück zu tun.“ „Das ist schon wieder so ein Begriff: Glück. Wie sieht es damit
aus? Wenn wir schon nicht ergründen können, was Liebe ist, vielleicht wissen
wir, was Glück ist.“ „Glück ist immer nur ein Moment. Oft verpassen wir ihn.“
„Sie und ihr Mann, was haben sie unter Glück verstanden?“ fragt er sie. „Sicher
nicht das Gleiche. Er vielleicht Vertrautheit, versorgt sein und ich vielleicht
Sicherheit, Gemeinsamkeit. Wir haben uns beide getäuscht. Ich habe das
begriffen und er wird es hoffentlich auch eines Tages verstehen.“ „Haben sie
schon wieder jemand verlassen um ihn sich selbst näher zu bringen?“ fragt er
sie provozierend. „Wollen sie nicht endlich mal an sich selbst denken und etwas
nur um ihrer Selbst Willen tun? Müssen sie immer so gut sein und den Schmerz
der anderen auf sich nehmen?“
Draußen hupt ein Auto, die
Tür öffnet sich, ein Mann im Anorak kommt herein und mit ihm ein Schwall feuchter
und kalter Luft. Der Wirt begrüßt ihn, scheint ihn zu kennen, die beiden
Arbeiter auch. Er bekommt ein Getränk hingestellt, ohne etwas bestellt zu
haben. Alles ist selbstverständlich. Dies ist eine angenehme
Selbstverständlichkeit, denkt sie. Thomas sieht sie schweigend an. Hat er
recht, fragt sie sich. Nehme ich den Schmerz der anderen auf mich? Halte ich
mich für gut? Sie hat sich darüber noch nie so richtig Gedanken gemacht. Was
ist denn >gut< und für wen? „Ich kann nicht anders,“ sagt sie resigniert
und leise. „Ja, ich kann nicht anders. Wollen sie mir das vorwerfen?“ „Werfen
sie es sich vor?“ „Manchmal. Ja, ich glaube, ich werfe mir manchmal meinen
eigenen Charakter vor.“ „Wie war das gestern vor dem Spiegel, als sie sich
angesehen haben? Haben sie sich da auch etwas vorgeworfen?“ Sie denkt nach.
„Nein, da nicht. Sie sehen, ich bin dabei zu lernen.“ „Gehen wir zurück zu den
abstrakten Begriffen Liebe und Glück. Können sie noch was dazu sagen?“ „Nein,
ich glaube nicht.“ „Und wie wäre es mit >Leben<“ fragt er. Sie lacht:
„Ja, wie wäre es denn damit?!“ Sie schaut ihn herausfordernd an und bringt ihn
damit aus dem Konzept. Er stellt ihr ohnehin nur solche Fragen, die er sich
selbst auch oft stellt. Aber sie gibt ihm andere Antworten. Und so schweigen beide
wieder eine Weile und er denkt darüber nach: Wie wäre es denn mit Leben? „Leben
hat doch etwas mit Erleben zu tun,“ fährt sie fort. „Erleben heißt: bewusst
wahrnehmen, spüren, riechen, fühlen. Auch Leid und Schmerz gehören dazu. Ich
glaube, von den drei Begriffen kann ich mit diesem am meisten anfangen. Auch
wenn ich es über viele Jahre vernachlässigt habe, ich habe wieder damit
angefangen zu leben. Rom ist nur der erste Schritt dazu.“ „Wie soll es weiter
gehen?“ „Sind wir jetzt schon bei der Zukunft? Ist die Vergangenheit beendet?“
„Die Vergangenheit endet nie,“ erwidert er.
Y
Sie spürt, wie ihr der
Wein langsam zu Kopfe steigt. Es ist spät geworden. Das Bistro hat sich
geleert, bis auf die vier Männer und die junge Frau an der Theke. Sie trinkt
den letzten Schluck des Weines und sagt: „Doch! Die Vergangenheit endet heute!“
Sie schaut Thomas an, der etwas ratlos dreinblickt. „Ich habe ihnen jetzt einige Fragmente meines Lebens erzählt,
ihre Sache ist es jetzt, daraus eine Geschichte zu machen. Auch wenn sie das
jetzt enttäuschen wird, aber es wird niemals meine Geschichte sein. Aber
vielleicht bringt es sie ihrer eigenen etwas näher.“
„Beenden wir diesen Abend
hier an dieser Stelle?“ fragt er sie. Sie schaut ihn immer noch an, sieht sich
Arm in Arm die enge Treppe hinaufgehen, spürt seine Hände über ihren Körper
gleiten, wie er ihr die Kleidung abstreift, wie sie beide auf das Bett sinken,
spürt seine Lippen über ihre Haut gleiten und ihre Hände über seinen Körper.
Ihre Hände krallen sich in seinen Rücken, ihre Augen sind geschlossen und eine
lange nicht mehr gekannte Wärme rast durch ihren Körper, als beide nackt und
eng umschlungen im flackernden Licht der Leuchtreklame in die Ewigkeit
einzutauchen scheinen. „Ja, wir beenden diesen Abend hier an dieser Stelle,“
sagt sie und winkt dem Barkeeper.
„Die Geschichte ist noch
lange nicht fertig,“ sagt er. „Meine oder ihre?“ fragt sie. „Beide!“ „Ich weiß.
Aber so eine Geschichte muss langsam wachsen und ihre weitere Handlung wird von
Zufällen geprägt sein.“ „Zum Beispiel von dem Zufall, ob wir uns wieder
treffen?“ fragt er. „Auch von dem,“ antwortet sie. Ihm kommt dieses Ende zu
schnell, er ist gerade dabei, ein Bild zu entwerfen, das mehr zeigt, als nur
das Gesicht seiner Hauptperson und sie verwischt es wieder, bevor es Konturen
annehmen kann. Aber er spürt, dass es so sein muss. Sie ist dabei ihren Weg zu
suchen und sie wird wegen ihm keinen Umweg machen. Während sie zur Theke
schaut, beobachtet er sie von der Seite. Ihre Augen, ihre Nase, ihre Haare hinter
den Ohren, der hochgestellte Kragen, der symbolisch etwas Schutz darstellt, ihr
Körper, den er unter dem Regenmantel nur vermuten kann, den er so gerne
anfassen würde, dessen Wärme er so gerne spüren würde. Ihr Mund ist leicht
geöffnet, so als wolle sie noch etwas sagen, aber sie sagt nichts. Er hat es
gelernt, etwas zu verlieren, aber heute ist es anders. Er hat auch etwas
gewonnen. Jetzt sollte er fragen, wann sehen wir uns wieder? Aber er fragt
nicht. Es würde nicht hier her passen. -
Wir sind alle nur Opfer unserer Fantasien.
Der Barkeeper kommt und
sie gibt ihm zu verstehen, dass sie bezahlen will. Die vier Männer und die Frau
an der Theke schauen herüber zu dem Tisch in der Ecke. Auf der Straße vor dem
Fenster ist es dunkler geworden. In einigen Schaufenstern ist die Beleuchtung
ausgegangen, der Verkehr ist weniger geworden. Marina bezahlt ihre Getränke.
„Was hat das zu bedeuten, dass wir uns hier begegnet sind,“ fragt Thomas. „Ich
weiß nicht. Ich weiß nur, dass es keine Zufälle gibt und ich weiß, dass es mir
gut getan hat, mit ihnen zu reden. Werden sie eine Geschichte darüber
schreiben?“ „Ich kann keine Geschichte
zu Ende schreiben, weil alles nur
Bruchstücke sind, was ich sammeln kann. Ich erlebe schon lange keine Geschichte
mehr bis zu ihrem Schluss.“ „Darüber
sollten sie froh sein. Meistens ist es sehr ernüchternd, das Ende einer
Geschichte zu erleben. Meines will ich
ihnen ersparen.“ Sie erhebt sich und lächelt ihn an. Die vier Männer an der
Bar, die Frau und der Barkeeper schauen aufmerksam und schweigend herüber, so
als verfolgen sie fasziniert die Inszenierung auf einer Bühne. Marina zieht
ihren Mantel zurecht, steckt ihre Zigaretten ein, hängt sich ihre Tasche über
die Schulter und schaut sich in dem Bistro um. „Machs gut, Thomas,“ sagt sie
und er erwidert: „Viel Glück, Marina.“ Sie schaut ihn noch einen Moment an,
blickt dann zu der jungen Frau an der Theke und den Männern, winkt dem
Barkeeper zu und geht zum Ausgang. Sie dreht sich nicht mehr um. Feuchte und
kalte, nach Benzin riechende Luft schlägt ihr entgegen, als sie die Tür öffnet
und der Straßenlärm hüllt sie ein, als die Tür sich hinter ihr schließt.
Der junge Geschäftsmann an
der Theke legt endlich die Zeitung zur Seite und bezahlt seine Getränke. Auch
der Taxifahrer zückt seine Geldbörse und der Musiker kippt den letzten Schluck
hinunter. Der alte Gigolo schaut durch das Fenster nach draußen der fremden
Frau hinterher, bevor auch er einige Geldscheine aus der Jackentasche
kramt. Es ist wie ein unsichtbares
Zeichen, das alle veranlasst zu bezahlen und zu gehen, so als habe diese fremde
Frau eine Versammlung verlassen, die durch ihr Weggehen ihren Sinn verloren
hat.
Als alle gegangen sind,
sitzt Thomas alleine an seinem Tisch und schaut zu der jungen Frau, die ebenso
alleine an der Theke sitzt. Der Barkeeper hat sich irgendwo in den Hintergrund
zurückgezogen. Sie ist schön, denkt
Thomas, sie ist alleine, aber sie hat die Zukunft vor sich. Er erhebt sich und
geht zur Theke. Er setzt sich auf den Hocker neben der jungen Frau und schaut
ihr in die Augen. Sie hält seinem Blick stand und der Barkeeper kommt und
wischt mit seinem Lappen über die Theke. Thomas bestellt sich noch einen Wein
und zieht den Kragen seiner Jacke etwas enger. Die Frau schaut ihm noch immer
tief in die Augen, wirft dann ein paar
Lire auf die Theke und geht. --- ---
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Y
Marina geht nur wenige
Meter auf der Straße und winkt sich dann ein Taxi heran. Müde und erschöpft
lässt sie sich in die Polster des Rücksitzes sinken. Es riecht nach
Zigarettenrauch, aber es ist warm. Die Musik aus dem Radio ist leise und
unaufdringlich. Der Fahrer beobachtet sie im Rückspiegel, als er langsam wieder
losfährt. Marina atmet tief durch. Dann sucht sie in ihrer Tasche nach dem
Schlüssel des Hotels, denn die Adresse steht auf dem Anhänger. Sie nennt sie
dem Fahrer und schließt dann die Augen. Häuser, Straßen und Autos fliegen im
Halbdunkel an ihr vorbei. Sie passieren große Plätze und enge Gassen, die
Stazione Termini und einige Brunnen und kleine Denkmäler in verborgenen
Winkeln. Als das Taxi vor ihrem Hotel anhält, ist sie fast eingeschlafen. Über
die enge Treppe geht sie nach oben in ihr Zimmer und schließt die Tür hinter
sich. Wieder steht sie in diesem unpersönlichen Zimmer, das für einige Tage ihr
zu Hause ist. Die Leuchtreklame wirft wieder flackerndes Licht in das
schummrige Zimmer. Sie entkleidet sich vor dem Spiegel und schaut sich dabei
zu. Sie lässt sich dann auf das Bett fallen, wühlt sich in die Decken und ist
schnell eingeschlafen.
In dieser Nacht wird sie
von wirren Träumen geplagt, in denen ihr Mann, Thomas, der alte Gigolo und die
junge Frau aus dem Bistro vorkommen. Und alle wollen sie etwas von ihr. Jeder
zerrt an ihrem Mantel, greift nach ihren Händen und sie reißt sich los und
läuft davon. Immer weiter und weiter, bis sie plötzlich an einem einsamen
Strand ankommt, über den Sand langsam auf das Meer zugeht und dann, dicht am
Wasser, immer weiter und weiter. Der Wind zerrt und zieht an ihren Kleidern und
ihren Haaren und es gelingt ihr auch schließlich diesen abzuschütteln. Es ist
auf einmal windstill und es ist plötzlich warm. Sie steht mit ihren Füßen in
den am Strand auslaufenden Wellen und schaut zum Horizont, wo mit einem
strahlenden Licht die Sonne aufgeht. Und noch während sie schläft weiß sie,
dass dies ein schöner Traum ist und mit diesem Gefühl erwacht sie am anderen
Morgen.
Y
Nach einem Frühstück in
der Bar nebenan geht sie zu Fuß durch die engen Gassen zur Stazione Termini und
such sich einen Vorortzug nach Ostia. Nur kurz muss sie daran denken, dass dies
ein ähnlicher Zug ist, wie der, mit dem sie ihre Heimatstadt verlassen hat.
Heimatstadt? Sie lacht. Im Zug unterhalten sich die Menschen laut, die Handys
klingeln und die Räder klappern auf den Schienen. Die Fahrt nach Ostia ist nur
kurz. Es hat in der Nacht aufgehört zu regnen und jetzt kommt sogar die Sonne
zögernd durch die Wolken. Marina geht vom Bahnhof direkt zu der alten römischen
Siedlung Ostia Antica, die einmal der Hafen der Stadt Rom gewesen ist, heute
aber auch weit entfernt vom Meer ist. Wieder schaut sie sich die alten Ruinen
und die mit Zypressen und Pinien bewachsenen Alleen an. Ihr ist es so, als
müsse sie sich damit wieder einen Teil ihrer selbst zurückholen, nach den
Exkursionen in die Vergangenheit des gestrigen Abends. Sie schöpft neue Kraft
aus den alten Mauern, auf die sie sich setzt und ihr Gesicht in die doch schon
spürbare Sonne hält. Sie schlendert dann weiter, zwischen den Hotel- und
Parkanlagen hindurch, die jetzt fast alle geschlossen sind und einen sehr
einsamen und verwaisten Eindruck machen, bis zu der breiten Uferpromenade am
Meer. Hier bleibt sie an der Mauer stehen und stützt sich mit beiden Händen
auf. Die Wolken über dem Horizont sind zerrissen und die Sonne kommt überall
hindurch. Sie setzt sich auf die Mauer und raucht einer Zigarette. Mit
geschlossenen Augen lauscht sie dem Meeresrauschen. Und nach einer Weile erhebt
sie sich und läuft langsam über den Strand zum Wasser. Möwen fliegen über sie
und Muscheln liegen unter ihren Füßen. Es sind keine Menschen am Strand, nur
weit entfernt steht ein Angler. Sie geht in diese Richtung, beobachtet
irgendwann den alten Mann beim Angeln und geht weiter und weiter. Sie hat das
Gefühl, als werde es immer wärmer, spürt die Sonne auf ihrer Haut, möchte die
Schuhe ausziehen und in das Wasser hinauslaufen, weiter und immer weiter. Sie
breitet ihre Arme aus, so als wolle sie die Luft umarmen. Dies ist der dritte
Tag, der ganz alleine ihr gehört. Und dies ist das Meer, das ganz alleine ihr
gehört und der Sand und die Sonne und die Luft. Mit ausgebreiteten Armen dreht
sie sich um sich selbst, schneller und immer schneller, bis es ihr schwindelig
wird, sie taumelt und in den Sand fällt, wo sie mit weit von sich gestreckten
Armen und Beinen liegen bleibt und in dem Himmel schaut. Sie hört die Wellen
auf dem Sand und die Möwen im Himmel und endlich...endlich fühlt sie sich
schwerelos und frei. Endlich glaubt sie zu spüren, was Leben ist, was Glück ist
und endlich auch was Liebe ist.
Y
Wieder geht ein leichter
Schneeregen über Rom nieder. Es ist dunkel geworden und der Taxifahrer hat
seine Tour beendet. Er betritt das Bistro und schüttelt den Regen von seiner
Jacke. Der Barkeeper winkt ihm zu. Der alte Musiker und der Gigolo sitzen
bereits an der Theke und trinken. Ein älteres Paar hat sich an einem der Tische
niedergelassen, Einkaufstüten um sich herum. Der junge Geschäftsmann kommt
herein, die Zeitung unter dem Arm und bestellt sich einen Espresso. Später
werden die beiden Fabrikarbeiter sicher auch wieder hereinschauen, vielleicht
auch die junge Frau. Die Wassertropfen an den großen Scheiben glitzern im Licht
der vorbeifahrenden Autos. Die Fenster sind etwas beschlagen, der Lärm der
Straße klingt etwas gedämpft herein. Die Menschen draußen hasten vorbei, von
irgendwo her nach irgendwo hin. Der Tisch in der Ecke des Bistros bleibt an
diesem Abend leer.
W
Ó helled-lyrik münchen 2001
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